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Zum Gedenken an Inge Behr

14. Januar 2024 | Ortsverein

Frau Inge Behr verstarb am 11. Dezember 2023 im Alter von 93 Jahren.
Über 75 Jahre gehörte die Genossin Inge Behr  der SPD an.
Hier die Trauerrede Ihrer Tochter Renate Behr.

Trauerrede fĂŒr unsere Mutter

Inge Behr
* 25.10.1930 † 11.12.2023

anlÀsslich ihrer Beisetzung auf dem Friedhof Dabringhausen am 12. Januar 2024.

Liebe Geschwister, Verwandte und Angehörige,
liebe Freunde und Bekannte,

ich danke Euch, dass Ihr heute gekommen seid, um Euch von unserer Mutter zu verabschieden und ihr die letzte Ehre zu erweisen. Ich weiß, wie dankbar sie dafĂŒr gewesen wĂ€re.
Als die jĂŒngste Tochter Renate unserer verstorbenen Mutter Inge Behr ist es mir eine Ehre, heute diese Trauerrede vor Euch zu halten.
In den letzten Jahren habe ich unsere Mutter begleitet. Es ist kein Geheimnis, dass es vorher schwierige und traurige Zeiten in unserer Familie gab. Dennoch ist es uns gelungen, eine neue Beziehung miteinander zu gestalten.
Unsere Eltern waren in den 80er Jahren mehrmals in Irland, und unsere Mutter hat sich gerne an diese unbeschwerte und sorgenfreie Zeit mit ihrem Mann erinnert. Ich zitiere deshalb einen irischen Segensspruch, der mir zutreffend erscheint:
Mögest du immer einen Blick fĂŒr das Sonnenlicht haben, das sich in deinen Fenstern spiegelt,
und nicht fĂŒr den Staub, der auf den Scheiben liegt.

In diesem Sinne waren wir stillschweigend ĂŒbereingekommen, die dicke Staubschicht zu ignorieren und haben uns fĂŒr das Sonnenlicht entschieden. Und das war gut so.
Nun möchte ich mit Euch einige Erinnerungen an unsere Mutter teilen – wohl wissend, dass jeder von Euch seine eigenen Erinnerungen an sie und sein eigenes Bild von ihr hat.
Hierbei beziehe ich mich auf ihren selbst verfassten Lebenslauf sowie auf die Geschichte ihres Lebens, die sie einem jungen Pfleger im Haus Vogelsang erzÀhlt hatte.
Unsere Mutter Inge Behr wurde am 25. Oktober 1930 als erstes Kind der Eheleute Hans vom Hoff und Irma, geb. Rönnfeldt in LĂŒbeck geboren.
Das Leben unserer Mutter wurde nachhaltig von der Herrschaft der Nationalsozialisten und dem Zweiten Weltkrieg geprĂ€gt. Ihr Vater wurde 1935 aufgrund seiner politischen Gesinnung als SPD- und Gewerkschaftsmitglied verhaftet und zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt. Da ihre Mutter als gelernte Schneiderin nicht arbeiten durfte und ihre Eltern zudem befĂŒrchteten, dass die kleine blond-gelockte Inge zwangsadoptiert wĂŒrde, wurde das 5-jĂ€hrige Kind zum Bruder der Mutter, zu Onkel Karl und Tante Eli, nach LĂŒbeck gebracht. Dieses einschneidende Erlebnis war zutiefst schockierend und prĂ€gend fĂŒr unsere Mutter. Es hat in ihrem weiteren Leben manche Ansichtsweise eingeengt und manche Entscheidung stark beeinflusst.
1936 wurde ihr Vater aus dem Zuchthaus entlassen und „ich durfte dann endlich wieder nach DĂŒsseldorf zu meinen Eltern.“ Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde ihr Vater eingezogen. Seit 1940 wurde DĂŒsseldorf von den Alliierten bombardiert, und „jede Nacht verbrachten wir zu unserem Schutz im Keller.“ Im selben Jahr wurde ihre Schwester Helga geboren, um die sie sich als große Schwester in den folgenden Kriegs- und Nachkriegsjahren oft gekĂŒmmert hat. Die elterliche Wohnung wurde ausgebombt, und so musste unsere Mutter mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester mehrfach in sicherere Gegenden fliehen; zuletzt bis in die NĂ€he von Magdeburg. Sie kamen jedoch zum Ende des Kriegs wieder nach DĂŒsseldorf.
Eine weitere Folge des Kriegs war, dass unsere Mutter einige Male die Schule wechseln musste und letztlich nur acht Jahre lang die Schule besuchen konnte. Darunter hat sie immer gelitten. Und so war es ihr ein wichtiges Anliegen, dass ihre Kinder, gerade auch ihre Töchter, eine gute Bildung erhielten und einen höheren Schulabschluss erwarben.
Nach dem Krieg zog die Familie vom Hoff nach Nienburg a. d. Weser, wo ihr Vater als Landrat tĂ€tig war und wo unsere Mutter eine Lehre im Lebensmittelgroßhandel begann. Diese schloss sie allerdings aufgrund des erneuten Umzugs ihrer Eltern in DĂŒsseldorf ab, denn ihr Vater gehörte hier dem GeschĂ€ftsfĂŒhrenden Vorstand des DGB an. Bis Anfang 1952 war sie als „kaufmĂ€nnische Angestellte“ tĂ€tig, bis sie – dem damaligen Rollenbild folgend – „infolge von Verheiratung“ ausschied. Dieses Frauenbild hat sie jedoch nicht an ihre Kinder weitergegeben. Im Gegenteil, fĂŒr sie war eine berufstĂ€tige Mutter, die zufrieden ist, wichtiger fĂŒr das Wohl der Kinder als eine unzufriedene Vollzeitmutter.
Unseren Vater Werner Behr hatte sie 1949 kennengelernt. „Dieser Mann hat mich sehr beeindruckt“ – und es war wohl eine gegenseitige Zuneigung und vertrĂ€umt-hoffnungsvolle Verliebtheit, die unsere Eltern verband, was wir ihren zahlreichen Briefen aus dieser Zeit entnehmen konnten. Auch die ziemlich kecken Fotos unserer ansonsten zurĂŒckhaltenden Mutter, die unser Vater von ihr machte, lassen darauf schließen.
„Nach der Hochzeit wurde ich Hausfrau und bin mit meinem Mann nach Bonn gezogen.“ In Bonn kamen ihre Kinder Irmtraud, Ulrich, Renate und Michael zur Welt. Die Wohnung in der Brucknerstraße 4 wurde zu eng. So zogen unsere Eltern im November 1963 nach Wermelskirchen, wo die Großeltern vom Hoff ein Zweifamilienhaus gebaut hatten. Unser Opa stammte ja aus Wermelskirchen, und von seinem „Bergischen Dickkopf“ hat unsere Mutter anscheinend auch ein Portiönchen abbekommen. In Wermelskirchen erblickte dann der jĂŒngste Sohn Christian das Licht der Welt.
„Der Umzug [von Bonn nach Wermelskirchen] ist mir sehr schwer gefallen, ich vermisste die Großstadt und unsere Freunde.“ Noch in den vergangenen Monaten hat unsere Mutter sich sehr gerne an die lebendige Hausgemeinschaft und ihre Bekannten in Bonn erinnert und sich ĂŒber Anrufe von einer Tochter dieser Bekannten sehr gefreut.
Es folgten viele Jahre als Mutter und Hausfrau. Und als Ehefrau eines als SPD-Mitglied lokalpolitisch sehr aktiven Ehemannes, dem sie den RĂŒcken freihielt und die synthetischen Rollkragenpullover wusch – manchmal jedoch zu heiß. Flugs raste sie dann mit dem Bus nach Remscheid, kaufte einen neuen Pullover – und der liebe Ehegatte ahnte von nichts.
Unsere Mutter kochte tĂ€glich fĂŒr ihre große Kinderschar und oft auch fĂŒr deren Freunde und Freundinnen, die – ebenso wie die Cousinen und Cousins von weither – immer willkommen waren und sich bei uns am Tisch in der lebhaften Runde sehr wohl gefĂŒhlt haben. Unsere Mutter genoss diesen Trubel und war gegenĂŒber unseren Freundinnen und Freunden aufgeschlossen und zugewandt.
Manchmal kamen wir nach Hause und sie ermahnte uns schon an der HaustĂŒr: „Psst, ganz still – er schlĂ€ft!“ Er? Ja, das war ein großer Topf mit Milchreis, der in einem unserer Betten vor sich hin garte und dann mit Zucker und Zimt hervorragend schmeckte!
LegendĂ€r waren auch ihr Schnitzelauflauf und ihre Waffeln. Nicht ganz so lecker, aber ebenfalls legendĂ€r waren ihr „Muskatnuss“ – als das GewĂŒrzdöschen in den Kartoffelbrei fiel – und ihre Brotsuppe.
Mit allem, was mit Technik zu tun hatte, stand unsere Mutter allerdings auf Kriegsfuß. Als moderne Hausfrau besaß sie einen Schnellkochtopf – den VitaFit-Topf – , der jedoch noch manuell zu betĂ€tigen war. Drehte sie das Ventil zu schnell auf, so schoss der Topfinhalt – meist Kartoffeln und Möhren – unter großem Druck an die KĂŒchendecke. Der orangefarbene Fleck gehörte somit fĂŒr Jahre zur KĂŒcheneinrichtung.
Auch das Auto blieb ihr fĂŒr immer ein unbeherrschbares Geheimnis. Als unser Vater sie einmal auf einer großen Wiese zum Üben ans Steuer ließ, gelang es ihr tatsĂ€chlich, vor den Augen der unglĂ€ubigen Zuschauerschar gegen den einzigen Baum auf dieser Wiese zu fahren. Somit war ihr Schicksal besiegelt, und bis ins hohe Alter zog sie dann fast tĂ€glich mit ihren „Zwiebel-Rolls-Royce“ zum Einkaufen in die Stadt.
Unsere Mutter hat uns ans Lesen herangefĂŒhrt und uns abends im Bett vorgelesen, bis sie „Fransen an der SchnĂŒss“ hatte und sich versprach: „Pinkelchen [statt PĂŒnkelchen] und seine Abenteuer“ lösten bei uns allen wassertreibende LachanfĂ€lle aus!
Aber unsere Mutter war mehr als nur eine Hausfrau und Mutter. Sie lernte in der VHS das Töpfern. „Der Lehrer [Herr Bojak] war auch von meiner Arbeit sehr begeistert, was mich sehr stolz machte.“ Uns Kindern fertigte sie Becher, Teller und SchĂŒsseln an, die noch heute unsere Haushalte dekorieren.
Außerdem war unsere Mutter 25 Jahre lang als „GrĂŒne Dame“ im Krankenhaus und im Haus Vogelsang ehrenamtlich aktiv und leitet mit einer anderen Dame die Gruppe. Dabei bewies sie Organisationstalent und Kommunikationsgeschick. Sie schenkte Kranken und alten Menschen ihre Zeit, organisierte die KrankenhausbĂŒcherei und buk Waffeln im Altenheim. DafĂŒr wurde sie im Jahr 2000 mit der Ehrennadel des Rheinisch-Bergischen Kreises und dem Goldenen Kronenkreuz der Diakonie ausgezeichnet. Auch der SPD gehörte sie seit 1949 an und erhielt mehrere Ehrungen. Sie stand somit fast genauso oft in der Zeitung wie ihr Ehemann!
Unsere Mutter war immer politisch interessiert und hatte trotz ihrer Altersgebrechen eine klare sozialdemokratische Einstellung gegenĂŒber Benachteiligung und sozialer Ungleichheit. In unserem Elternhaus und in der Ehe unserer Eltern waren politische Diskussionen und Meinungsaustausch ĂŒblich. Nach dem Tod ihres Mann im Jahr 2019 vermisste sie solche tiefergehenden GesprĂ€che sehr.
Beide waren im April 2018 ins Haus Vogelsang eingezogen, als die Alters-gebrechlichkeit zu umfangreich geworden war.
Nach der Trauer um ihren Mann konnte unsere Mutter jedoch noch einmal andere Seiten ihrer Persönlichkeit entfalten. Befreit von Sorgen und der Pflicht, sich um Mann und Kinder zu kĂŒmmern, nahm sie an den Angeboten des Sozialen Dienstes teil und wurde wieder kreativ: Bunte Seidenschals und Bilder entstanden. Kommunikativ wie sie war und ausgestattet mit dem ihr eigenen Humor, nahm sie an GesprĂ€chsrunden teil, tötterte gerne mit ihren Mitbewohnerinnen und schwang sogar die Beine bei der Rollstuhlgymnastik.
In den letzten anderthalb Jahren nahmen die Altersbeschwerden zu, die sie jedoch meist klaglos und tapfer ertrug. Sie jammerte nicht, sondern klagte nur ĂŒber die zunehmende Dunkelheit aufgrund ihres Grauen Stars. Mit erstaunlicher ZĂ€higkeit gelang es ihr, trotz hoher PflegebedĂŒrftigkeit möglichst selbststĂ€ndig zu bleiben. Dazu sagte sie immer: „Altwerden ist nichts fĂŒr Feiglinge!“ Und wenn es mal ganz arg kam: „Alles Kacke, deine Elli!“
Solche derben Worte aus dem Mund unserer Mutter, die in unserer Kindheit – den damaligen Erziehungsmethoden folgend – streng durchgriff, wenn einem mal ein „schlechtes“ Wort rausgerutscht war, erstaunten mich. Nicht weniger erstaunlich waren ihre Textsicherheit und Sangesfreude nicht nur bei Kirchen- und Weihnachtsliedern, sondern auch bei Karnevals- und sogenannten Saufliedern! Sie war dann doch auch ein „echt DĂŒsseldorfer MĂ€dsche“.
Als sie nicht mehr fernsehen und lesen konnte, behalf sie sich mit ihrem Kopfkino, in dem sie Abend fĂŒr Abend die StĂ€tten ihrer Kindheit und Jugend und ihre Kinder besuchte. Davon erzĂ€hlte sie mir und ließ mich an ihrer Erinnerungen teilhaben.
„Alles in allem habe ich ein gutes Leben gehabt“, war ihr ehrliches ResĂŒmee.
Unsere Mutter verstarb am 11. Dezember 2023 an einem Schlaganfall im hohen Alter von 93 Jahren, nachdem sie vormittags mit GrundschĂŒlern PlĂ€tzchen gebacken und nachmittags ein Konzertchen besucht hatte. Ich war bei ihr und konnte ihre Hand halten. Sie ist friedlich eingeschlafen.
Zum Abschluss möchte ich Euch einladen, dieses Lied, einen irischen Reisesegen, das unsere Mutter gerne gesungen hat, mitzusingen:
Möge die Straße 

Möge die Straße uns zusammenfĂŒhren / und der Wind in deinem RĂŒcken sein, / sanft falle Regen auf deine Felder / und warm auf dein Gesicht der Sonnenschein.

Und bis wir uns wiedersehen, / halte Gott dich fest in seiner Hand, / und bis wir uns wiedersehen, / halte Gott dich fest in seiner Hand.

FĂŒhre die Straße, die du gehst / immer nur zu deinem Ziel bergab, / hab, wenn es kĂŒhl wird warme Gedanken, / und den hellen Mond in dunkler Nacht.

Und bis wir uns wiedersehen, …

Hab unterm Kopf ein warmes Kissen, / habe Kleidung und das tĂ€glich Brot, / sei ĂŒber vierzig Jahre im Himmel, / bevor der Teufel merkt, du bist schon tot.

Und bis wir uns wiedersehen, …

Bis wir uns mal wiedersehen, / hoffe ich, dass Gott dich nicht verlĂ€sst, / er halte dich in seinen HĂ€nden, / doch drĂŒcke seine Faust dich nie zu fest.

 

Und bis wir uns wiedersehen, …
© Markus Pytlik / Veröffentlichung des Textes mit Genehmigung des Autors / Rechte beim Strube Verlag