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“Unvergessen”

12. November 2019 | Ortsverein, Stadtratsfraktion

Die Rede von Bürgermeister Rainer Bleek zur Veranstaltung „Unvergessen“ am 09.11.2019, 18:00 h anlässlich des Jahrestages der Reichsprogromnacht:
Die Reichsprogromnacht, die vom 09. auf den 10. November 1938, heute vor 81 Jahren, stattgefunden hat, stellt zweifelllos einen der tiefsten Einschnitte in der jüngeren deutschen Geschichte dar. Sie gilt als schreckliches Fanal der vom NS-Regime organisierten und gelenkten Gewaltmaßnahmen gegen Menschen mit jüdischem Glauben, an deren Ende ca. 6 Mio. europäische Juden zu Opfern des nationalsozialistischen Völkermords geworden sind.
In dieser Nacht wurden ca. 400 Juden ermordet, 1400 Synagogen, Bet- und Versammlungsräume zerstört, ca. 30.000 Juden in den Tagen danach in Konzentrationslagern inhaftiert. Die Reichsprogromnacht war der Beginn der systematischen Verfolgung unserer jüdischen Bevölkerung.
Unter Repressionen, Diskriminierungen und Verfolgungen hatten die Juden in zunehmenden Maße schon seit einigen Jahren zu leiden gehabt. Zu erwähnen sind hier die Nürnberger Rassegesetze von 1935, die Anmeldepflicht von jüdischem Vermögen und die Kennzeichnungspflicht für jüdische Geschäfte von 1938. Aber mit den Gewalt- und Zerstörungsaktionen in dieser Nacht sollte den Juden unmissverständlich klargemacht werden, dass sie in diesem Land keine Zukunft mehr haben würden.
Was war der Auslöser?
Es war das Attentat eines 17jährigen polnischen Juden namens Herschel Grynszpan auf den Botschaftsangestellten Ernst Eduard vom Rath in Paris, der einen Tag später an den Folgen des Attentats starb. Das Motiv war Rache für die Leiden, die seine Familie bei der gewaltsamen Vertreibung aus Deutschland erlitten hatte.
Dieses Ereignis nutzten die Nationalsozialisten, um bereits seit einiger Zeit vorbereitete Pläne zu einer flächendeckenden Judenverfolgung umzusetzen.
Hitler und die Parteiführung erfuhren von dem Attentat bei einer Gedenkfeier in München zum seinerzeit gescheiterten Hitler-Ludendorf-Putsch. Goebbels organisierte daraufhin umgehend mit den versammelten Partei- und SA-Führern Aufrufe an die Organisationen vor Ort, sofort Gewaltmaßnahmen gegen jüdische Betriebe umzusetzen. Diese erteilten unmissverständliche Befehle.
Zitat aus einer Mitteilung an die SA-Stelle Nordsee: „Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Nach der Zerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, dass keinerlei Wertgegenstände entwendet werden können. … Die Presse ist heranzuziehen. Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken… die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden….
Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. Sämtliche Juden sind sofort zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, etwa mit folgendem Text: Rache für Mord an vom Rath. Tod dem internationalen Judentum.“ (Zitatende)
Es gab genügend willfährige und skrupellose NS-Anhänger, die solche Anweisungen rücksichtslos umsetzten.
Wie war die Situation in Wermelskirchen?
Die letzte Kommunalwahl mit mehr als einer Partei hatte am 12.03.1933 stattgefunden, wobei man von einer freien Wahl schon nicht mehr sprechen konnte. Die Wahlbeteiligung lag bei 80 %. Auf die Parteien entfielen in % u.a.:
NSDAP 43,1, KPD 24,8, Kampffront 8,5, Zentrum 6,3, SPD 4,5.
Umgesetzt in Mandate des Stadtrates waren das:
NSDAP 13, KPD 7 (durften das Mandat nicht annehmen), Kampffront, Bürgervereinigung, Zentrum je 2 Mandate, Freiwirtschaftler je 1 Mandat, SPD ebenfalls ein Mandat, das aber nicht angenommen wurde.
Insgesamt zeigt dieses Ergebnis das Bild einer polarisierten Gesellschaft, in der die politische Mitte an Einfluss verloren hat. Wer heute geglaubt hat, diese Zeiten seien vorbei, der schaue sich das aktuelle Wahlergebnis aus Thüringen an.
Die Mandate spielten nur wenig später sowieso keine Rolle mehr. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24.03.1933 wurde die gesamte Staatsgewalt der nationalsozialistischen Partei unterworfen. KPD und SPD wurden verboten, die übrigen Parteien mussten sich selbst auflösen. Übrig blieb allein die NSDAP, die mit dem Gesetz zur „Einheit von Partei und Reich“ am 01. Dezember 1933 die volle Staatsmacht an sich riss.
Was bedeutete diese Entwicklung für die Juden in Wermelskirchen?
Zunächst ist festzuhalten: Wermelskirchen hatte in den 30er Jahren keine jüdische Geschichte. Mehrere Anfragen von übergeordneten Stellen an die Verwaltung belegen dies. Nie waren es offiziell mehr als eine handvoll jüdische Mitbürger, die in Wermelskirchen lebten.
Einer von Ihnen war Kurt Wohl, an dessen Wohnhaus (Ladenhof Eich) wir uns heute zum Gedenken versammelt haben.
Kurt Wohl war ein angesehener Arzt, ein kaisertreuer Patriot und Träger des Eisernen Kreuzes aus dem 1. Weltkrieg. Er war 1876 in Breslau geboren, als Jude, aber von evangelischen Pflegeeltern großgezogen worden.
Er war (Zitat) „ein blonder Typ mit klaren blauen Augen“ (Zitatende) und kam 1903 nach Wermelskirchen aufgrund seines Wunsches, die Gynäkologie im geplanten Krankenhaus Wermelskirchen zu leiten. 1914 wurde er auch in die Kommission zur Bauplanung des KH berufen. Zunächst ließ er sich als Allgemeinmediziner und Arzt für Gynäkologie und Geburtshilfe nieder.
In seiner Akte steht (zitiert nach Thomas Wintgen u. a., Menschen. Fakten, Akten (1933 bis 1945), Beiträge zur Wermelskirchener Geschichte Band 9, 1997):
(Zitat) Wohl erwarb sich bald ein „derartiges Vertrauen in der Bürgerschaft, dass er nicht nur die weitaus beste Praxis in den arbeitenden Schichten der Bevölkerung hatte, sondern auch der Hausarzt in den alten und großen Fabrikantenfamilien Wermelskirchens und selbst des benachbarten Lenneps wurde (…) In den letzten Jahren vor dem Krieg hat er die Sanitätskolonne des Roten Kreuzes geleitet.“ (Zitatende)
Kurt Wohls erste Frau war 1929 verstorben. Im Jahr darauf verliebte er sich in eine neue, nicht-jüdische Sprechstundenhilfe namens Kläre Zänder. Sie verlobten sich noch im gleichen Jahr 1930.
Zu einer Heirat kam es nicht, weil 1935 die Nürnberger Rassegesetze verabschiedet wurden. Kurt Wohl wurde dadurch nicht nur ein politisch rechtloser Staatsbürger. Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ schloss nicht nur seine Eheschließung aus, sondern verbot auch, dass „arische“ Beschäftigte bis zum 45. Lebensjahr in jüdischen Haushalten arbeiten durften. Das Ausnahmegesuch wurde abgelehnt. Kläre Zänder musste zurück in ihren Heimatort Liegnitz. Ihre Treffen mit Wohl wurden polizeilich bespitzelt.
1938 wollte Kurt Wohl ausreisen nach Niederländisch-Ostindien, wo sein Sohn für eine Remscheider Exportfirma arbeitete. Seinen Antrag auf Ausstellung eines Reisedokumentes lehnte die Gestapo im Juli 1938 zunächst ab, im September genehmigte sie ihn schließlich doch noch. Im gleichen Monat wurde ihm seine Approbation (wie bei allen jüdischen Ärzten) entzogen.
Trotz der Genehmigung erhielt er das ersehnte Dokument erst 15 Monate später, im Januar 1940. Was er dafür zahlen musste an „Auswanderabgabe“ und „Reichsfluchtsteuer“, ist leider nicht überliefert. Er überwand aber alle Hindernisse und arbeitete bald unentgeltlich im Krankenhaus von Surabaja (Indonesien).
1941 wurde er offiziell ausgebürgert und sein Vermögen beschlagnahmt. In seiner neuen Heimat wurde er von den Holländern, weil er Deutscher war, interniert und gedemütigt. Er sollte schließlich kriegsbedingt nach Britisch-Indien evakuiert werden. Wegen eines medizinischen Notfalls musste er das mit 412 Deutschen besetzte Schiff – unter ihnen war auch sein Sohn – in letzter Minute wieder verlassen. Das Schiff wurde später auf der Reise von einem japanischen Flieger bombardiert und sank. Nur wenige konnten sich retten, darunter nicht sein Sohn.
Kläre Zänder wurde polizeilich verfolgt und denunziert und ab 1940 im KZ Ravensburg inhaftiert. Erst zum Kriegsende kam sie wieder frei.
Sie hatten 10 Jahre nichts voneinander gehört. Dann schließlich gelang die Kontaktaufnahme. Sie konnten per Ferntrauung heiraten und Kläre Wohl bekam schließlich auch die Genehmigung, zu ihm auszureisen.
Am 23. Mai 1957 kam das Ehepaar nach Wermelskirchen zurück und wurde „herzlich empfangen“, so ist es überliefert. Und mussten feststellen, dass derselbe Kollege, der damals die Vertreibung maßgeblich mit betrieben hatte, noch da war und die Papiere für die Altersversorgung Dr. Wohls in den Händen hatte. Dr. Wohl hat von dieser 1938 bereits vollständig eingezahlten Altersversorgung, wie seine Witwe noch 1985 berichtete, „keine Mark bekommen.“
Ein deutsch-jüdisches Schicksal, das ich hier gerafft wiedergeben konnte. Und das verdeutlicht, welche unmenschlichen und grausamen Folgen ideologische Verblendung und Hass gegen Andersdenkende und anders Aussehende bewirken können. Diese Gefahren sind wieder bedrohlicher geworden. Rechtsradikale Bestrebungen gewinnen an Einfluss. Wir kennen die Geschichte und die Folgen.
Die Reichsprogromnacht ist ein tiefer Einschnitt in der Geschichte unseres Landes. Das Gedenken daran soll uns mahnen, sich allen Gefahren für Freiheit und Frieden, für Menschenrechte und Menschenwürde zu widersetzen und gerade auch für die Demokratie einzutreten.
Das ist die Botschaft und danach müssen wir handeln.